Von Martin Tschechne
Ist in Deutschland eigentlich eine neue Spießigkeit ausgebrochen? Gerade Stadt-Bewohner ziehen sich am Wochenende in ihre Kleingärten zurück. Ganze Familien jäten, hacken und ernten. Flüchten wir vor der komplizierten Wirklichkeit kollektiv in die künstliche Idylle? Nein, sagt der Psychologe Martin Tschechne. Er sieht in der neuen Lust am Gärtnern vielmehr eine wirklich moderne Bewegung.
In Kassel haben sie die Gärtnerei zur Kunst erhoben. Ein Apfelbäumchen hier, ein bepflanzter Müllberg dort, ein von Brennnesseln ringsum geschütztes Biotop für Schmetterlinge oder ein Gemeinschaftsgarten, in dem neben Petersilie und Zucchini auch so etwas aufgepäppelt wird wie ein erweitertes Bewusstsein für global-ökologische Zusammenhänge - die documenta 13 ist ein Fest der grünen Denkanstöße.
Und wem das alles noch ein bisschen rührend vorkommt - die Winzigkeit des Schmetterlingsgartens da, wo Besucherbusse vorfahren, die kleingärtnerische Gemütlichkeit zwischen den Pflanzbeeten - der sei daran erinnert: das eine Weltausstellung der zeitgenössischen Kunst kein kommerzielles Garten-Center ist. Und zweitens an Joseph Beuys, den viel geschmähten Erfinder der Fettecke und des erweiterten Kunstbegriffs: Vor 30 Jahren erregte er mit seiner documenta-Aktion "7000 Eichen" noch allgemeines Kopfschütteln. Wie bitte? Bäume pflanzen? Das soll Kunst sein? Inzwischen wird er gefeiert als einer, der wusste, was wichtig werden würde. Und manch einer muss zugeben, ihn damals vielleicht verkannt zu haben. Die Bäume sind heute groß. Und Kassel ist durch die Kunst deutlich grüner geworden.
Der ehemalige Flughafen Berlin-Tempelhof ist ein anderes Terrain. Die Prinzessinnengärten am Moritzplatz, die Garten-Kooperativen überall, in Hamburg, München, Leipzig oder Köln, die brach liegende Flächen erobern, um gemeinsam darauf Salat und Gemüse anzubauen, oft in flachen Kisten, weil das Erdreich verdorben ist und ein tragbares Tomatenbeet sich zur Not auch an einen anderen Platz verlegen lässt: Sie sind der künstlerischen Avantgarde ein gutes Stück voraus. Nicht nur, weil sie längst ihre Ernte einfahren und sich zum gemeinsamen Gemüse-Couscous verabreden, während dort noch die Setzlinge angegossen werden. Sie haben auch ein Programm, das über Laubenpieper-Romantik zwischen Großstadtmauern weit hinaus geht.
Ihre Gärten sind nicht nur Rückzugsgebiete einer ökologischen Bewegung, sondern vor allem Vorposten und Versuchsanstalten einer neuen ökonomischen Lebensform. Es geht um den Begriff des Eigentums, und was da als neu und revolutionär erprobt wird, ist in Wirklichkeit ein sehr altes, fast vergessenes Konzept: das Allgemeingut, die Allmende. Der Acker, der von allen bestellt wird, um alle zu versorgen. Im Mittelalter verbreitet als Methode, soziale Differenzen auszugleichen und alle Bewohner etwa eines Dorfes gemeinsam in die Verantwortung einzubinden. Heute noch praktiziert auf Hochgebirgsalmen oder in den weit verzweigten Bewässerungssystemen trockener Regionen - und plötzlich wieder hoch interessant, um auch in den wuchernden Städten Gemeinschaft zu erzeugen: Nur Menschen, die miteinander verbunden sind, stehen auch füreinander ein.
Rührselige Öko-Romantik? Vielleicht. Ob sich die Sahel-Zone so begrünen lässt? Sich sieben Milliarden Menschen ernähren, die Schadstoffe von einer Milliarde Autos neutralisieren und die Reichen der Welt zur Vernunft bringen lassen? Nun Ja. Immerhin wurde die Amerikanerin Elinor Ostrom vor drei Jahren für ihre Forschung zu den Chancen der Allmende in künftigen Gesellschaften mit dem Nobelpreis für Wirtschaftswissenschaften ausgezeichnet.
Und heute ziehen sie gemeinsam Gemüse, der Student und die junge Mutter, die Frau aus Anatolien, der Rentner und der Büromensch. Und wenn sie sich einigen können, wer den dicksten Kürbis mit nach Hause nehmen darf, oder ob sie ihn vielleicht gemeinsam verspeisen - dann lassen sich vielleicht auch Fragen angehen wie die, wem das Internet gehört, wem die Atmosphäre, und welches der angemessene Lohn ist für die Früchte geistiger Arbeit.
Und nun kommt doch die Kunst wieder ins Spiel. Vom berühmten "Paradiesgärtlein" im Frankfurter Städel-Museum, auf dem ein Maler des späten Mittelalters die geheimnisvolle Symbolik der Pflanzen zelebriert, bis zu den kunstvoll angelegten Gartenlandschaften des Barock, vom Schmetterlingsbiotop auf der documenta bis zu den den Grünanlagen, die moderne Architekten senkrecht an Hochhausfassaden empor wuchern lassen: Der Garten selbst ist eine Urform der Kultur. Und immer wieder, bis heute, gedeihen darin frische Ideen.
Dr. Martin Tschechne ist Journalist und lebt in Hamburg. Er promovierte als Psychologe mit einer Arbeit zum Thema Hochbegabte. Zuletzt erschien seine Biografie des Begabungsforschers William Stern im Verlag Ellert & Richter (herausgegeben von der ZEIT- Stiftung Ebelin und Gerd Bucerius).
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Zurück zur Natur - Die neue Lust am Gärtnern. Gäste: Stefan Leppert, Landschaftsarchitekt, und Marco Clausen, Mitinitiator des "Prinzessinnengarten" in Berlin