Von Margaret Heckel
Es klingt so plausibel: Jeder zweite Betrieb hat keinen Beschäftigten über 50 Jahre. Alle rausgeworfen in immer neuen Frühverrentungswellen. Seit gut zehn Jahren ist dieser Befund immer wieder zu hören. Und dennoch führt er in die Irre - wie so Vieles, was wir über das Alter hören.
Tatsächlich steigt der Anteil der Firmen kontinuierlich, die Ältere beschäftigen. Und es gibt bereits die ersten Unternehmen, die spezielle Ausbildungsgänge für Menschen über 40 anbieten. Eine badische Großbäckerei führt ein so genanntes Senior-Azubi-Programm für Bäcker, Konditoren und Fachverkäuferinnen durch. Die Sozialholding der Stadt Mönchengladbach bietet Älteren die Ausbildung zur Pflegefachkraft an.
Noch sind das Ausnahmen. Aber diese Firmen sind auf dem richtigen Weg. So lässt sich der demografische Wandel konstruktiv angehen. Denn es ist keinesfalls zwangsläufig, dass Deutschland grauer, einfallsloser und ärmer wird, weil es altert und schrumpft.
Es wird Zeit, mit alten Ängsten und Vorurteilen aufzuräumen. Die zweite Lebenshälfte ist nicht Verzicht und Vergreisung. Ganz im Gegenteil: Wir leben nicht nur länger, sondern wir sind fitter und gesünder als je zuvor. Und wie immer mehr Studien zeigen, sind wir auch glücklicher als in der ersten Lebenshälfte.
Nichts ist unsinniger als die alte Volksweisheit "Was Hänschen nicht lernt, lernt Hans nimmermehr". Hans lernt anders als Hänschen - projektorientierter, das Ziel immer im Blick. Sein bester Helfer dabei ist ein Gehirn, das bis ins hohe Alter formfähig ist, was selbst Forscher immer wieder überrascht. Es muss normal werden, mit 55 noch einen Ausbildungsberuf zu lernen oder ein Studium zu absolvieren. Diese Angebote zu entwickeln, ist eine Chance für die Bildungsbranche.
Ältere sind genauso leistungsfähig wie Jüngere, aber noch fehlt in den allermeisten Firmen die Wertschätzung für sie. Wer bereits umdenkt, wird belohnt: Die beiden Betriebe mit den Senior-Azubis sind sehr zufrieden. Die neuen Fachkräfte sind sogar seltener krank als ihre jüngeren Kollegen. Und sie sind in allem, wofür Erfahrungswissen benötigt wird, sogar besser. Am besten aber sind sie in Teams von Jüngeren und Älteren, so dass alle ihre jeweiligen Stärken ausspielen können.
Für viele Grauschöpfe brechen deshalb gute Zeiten an. Ihre Erfahrungen werden immer gefragter. Die Firmen werden zunehmend um sie werben. Sie müssen die Arbeitsbedingungen für die älteren Mitarbeiter verbessern und zeitlich flexibilisieren. Darin liegt eine große Chance für alle Arbeitnehmer: Warum sollen wir nicht bis 70 arbeiten, wenn wir im Gegenzug zwischen 56 und 66 jeweils drei Monate im Jahr frei haben können?
Notwendig sind dazu auch flexible Rentenbausteine. Starre Renteneintrittsgrenzen sind von gestern. Für ein langes Leben brauchen wir Teilrenten. In Skandinavien gibt es das längst schon. Dort bekommt jeder mit 60 eine kleine Rente und kann dann jedes Jahr entscheiden, ob und wie viel er weiter arbeiten will. Das ist eine wichtige psychologische Änderung.
Wir hier haben ein Strafsystem. Wer früher in Rente geht, muss Abschläge hinnehmen. Die Skandinavier haben ein Anreizsystem. Wer länger arbeitet, bekommt mehr Rente.
Schaffen wir es, die Erwerbsbeteiligung der Älteren noch deutlich weiter zu steigern, sind die demografischen Veränderungen keine Gefahr für die Sozialsysteme. Doch es geht nicht nur um schnöde Finanzen: Es geht um die Wertschätzung der Erfahrung von Millionen von Menschen. Wir brauchen ein neues Bild vom Alter. Morgen am 1. Mai ist der Tag der Arbeit ein perfekter Anlass, damit anzufangen.
Margaret Heckel, Jahrgang 1966, studierte Volkswirtschaft in Heidelberg und den USA. Bevor sie sich 2009 als Journalistin selbstständig machte, war sie Politikchefin der Welt, Welt am Sonntag und Berliner Morgenpost. Davor leitete sie das Politikressort der Financial Times Deutschland und hat für die Wirtschaftswoche aus Leipzig, Berlin und Moskau berichtet. Sie ist Autorin des Bestsellers "So regiert die Kanzlerin". Nach zwei Jahrzehnten im Print-Journalismus arbeitet Heckel heute vorwiegend online: 2009 ging ihre mit Michel Friedman entwickelte Kommentarseite www.starke-meinungen.de online sowie www.das-tut-man-nicht.de - die Seite für moralische Fragen, ein gemeinsames Projekt mit Ursula Weidenfeld. Anfang Mai 2012 erscheint ihr Buch "Die Midlife-Boomer: Warum es nie spannender war, älter zu werden" (Edition Körber Stiftung)