Den Begriff Hartz IV gibt es im Gesetz nicht

 
Einfache und verständliche Gesetze – Wunsch vieler Bürgerinnen und Bürger, aber auch der Verwaltungen, die die Gesetze ausführen. Doch oft sind die Sachverhalte sehr kompliziert, Gesetze werden in Eile formuliert. Verständlichkeit und klare Struktur bleiben mitunter auf der Strecke. Beim Bundesjustizministerium arbeiten neun Sprachwissenschaftlerinnen und Sprachwissenschaftler, die in den Texten für Klarheit sorgen. Der Redaktionsstab Rechtssprache beim Bundesministerium der Justiz berät die Bundesministerien. Mit der Leiterin des Redaktionsstabes, Stephanie Thieme, sprach Astrid Kny über die Gesetzessprache in der Sozialpolitik.
 

Die Neuregelungen bei den Regelsätzen im Bildungspaket für arme Kinder sind beschlossen und verkündet. Finden Sie die Sprache der Politiker im Fernsehen oder Interviews der Sache angemessen?

 
Mich stört in der ganzen Diskussion die unkritische Verwendung des Begriffs Hartz IV, der von Journalisten und selbst von Politikern und Politikerinnen immer wieder benutzt wird. Diesen Begriff gibt es im Gesetz nicht. Und er hat etwas stark Stigmatisierendes. Es ärgert mich immer wieder, wenn von der Hartz IV-Reform, den Hartz IV-Regelsätzen oder den Hartz IV-Empfängern gesprochen wird.
 

 

 

 

Können Sie mit der Sprache im neuen Gesetz zu den Regelsätzen und zum Bildungspaket leben?

 
Die Sozialgesetzbücher sind aus meiner Sicht insgesamt sprachlich überarbeitungsbedürftig. Ursache dafür ist, dass Regelungen ständig nachgebessert und geändert werden – ein unübersichtliches Flickwerk entsteht.
 
Aber zu Ihrer Frage: Unsere sprachlichen Veränderungsvorschläge sind Empfehlungen, die von den zuständigen Fachleuten geprüft und gegebenenfalls auch verworfen werden können. In dem von Ihnen angesprochenen Fall fehlte einfach die Zeit, unsere Vorschläge mit dem Ressort zu diskutieren. Hinzu kommt, dass der Entwurf zu den neuen Regelsätzen nach unserer sprachlichen Bearbeitung noch mehrfach geändert worden ist. In die letztlich verabschiedete Fassung ist beispielsweise eine Beschlussempfehlung des Vermittlungsausschusses eingeflossen, die wir gar nicht mehr gesehen haben.
 

Das Urteil des Bundesverfassungsgerichts zu den Regelsätzen gab es im Februar 2010. Haben Sie da schon einmal über neue Begriffe nachgedacht?

 
Wir haben wegen der inflationären Verwendung der Bezeichnung Hartz IV immer mal wieder überlegt, ob es einen neutraleren Begriff dafür gäbe.
 

Ist Ihnen etwas Kurzes und Prägnantes eingefallen?

 
Wir haben über "Chancenförderungsgesetz" und die Abkürzung "ChaföG" –  in Anlehnung an BAföG – diskutiert. Eine denkbare Alternative für die Bezeichnung "Arbeitslosengeld II" wäre dann beispielsweise "Chancenförderungsgeld". Aber Sie merken schon, es ist nicht einfach, kurze und prägnante Begriffe zu finden, die auch schnell in der Alltagssprache angenommen werden, so wie es bei Hartz IV der Fall war.
 

Wenn ein Gesetz ins Kabinett kommt, enthält es den Beschluss, den Sprechzettel für den Regierungssprecher und die Begründung. An welchen dieser Bestandteile wirken Sie mit?

 
Priorität bei Gesetzen und Verordnungsentwürfen hat für uns das Vorblatt und der eigentliche Regelungsteil. Auf Wunsch lesen wir auch die Begründung, aber hier fehlt uns meistens die Zeit. Die Begründungen zu Gesetzen und Verordnungen hätten allerdings eine sprachliche Durchsicht oft nötig. Nicht selten wiederholen sie nur den Gesetzestext statt zu erklären  und zu erläutern.
 

Wie machen Sie Ihre Anmerkungen? Im Korrekturmodus des Computers oder auf Papier mit Rotstift?

 
Wir arbeiten im Kommentar- und Änderungsmodus von Word. Anmerkungen, die Rechtschreibung und Grammatik betreffen, werden gleich im Text korrigiert. Vorschläge, die einer Erklärung bedürfen, werden als Kommentare eingefügt. Längere Textpassagen werden in einer gesonderten Datei festgehalten. Unsere Korrekturen sind farblich eingestellt: Streichungen rot, Ergänzungen blau.
 

Was sind typische Änderungen?

 
Wenn zum Beispiel unterschiedliche Begriffe für einen Sachverhalt verwendet werden, fragen wir, ob es Gründe dafür gibt. Es gilt der Grundsatz, dass Gleiches auch gleich benannt werden soll. Abwägungen zwischen aktuellen Sprachentwicklungen und althergebrachten juristischen Formulierungen und Fachbegriffen werden diskutiert. In manchen Fällen entsteht eine andere, neue Gliederung. Widersprüche und Redundanzen werden aufgespürt, komplexe Sätze werden – wo möglich – aufgelöst und neu geordnet. Tabellen werden – wo es sich anbietet – entworfen, um umfängliche Sachverhalte übersichtlicher zu gestalten. Das vom Bundesministerium der Justiz herausgegebene "Handbuch der Rechtsförmlichkeit" gibt ebenfalls allgemeine Empfehlungen für das Formulieren von Rechtsvorschriften, die wir berücksichtigen.
 

Ich komme noch einmal auf das Thema Arbeitslosengeld II zurück. Wer über dieses Thema spricht, Arbeitslosengeld II, Grundsicherung, Existenzminimum, steht immer vor der Frage "Welchen Begriff verwende ich?" Die korrekte Bezeichnung für eine persönliche Situation lässt sich ja meist kaum in einem Wort fassen. Hätten Sie ein Idealwort, das für all diese Fälle passt?

 
Ein Idealwort kann es nicht geben, weil unterschiedliche Fälle geregelt werden. Grundsicherung hat nichts mit dem Arbeitslosengeld II zu tun. Das ist ein ganz anderer Tatbestand. Vielleicht könnte das Wort  "Basissicherung" alles umfassen, denn es geht ja immer um staatliche Transferleistungen, die den Bürgerinnen und Bürgern eine Existenz sichern sollen. Ich weiß aber nicht, ob den Menschen mit einem solchen Begriff wirklich geholfen wäre. Ich glaube, die betroffene Person weiß im Einzelfall sehr genau, welche konkreten Ansprüche sie hat.
 

Wie hoch ist Ihre Autorität gegenüber den Ministerien?

 
Sie ist dann sehr hoch, wenn das Ministerium uns selbst um Sprachberatung bittet. Wir haben natürlich viel Werbung in den Ministerien gemacht, uns bereits  v o r  der relativ späten Rechtsprüfung aller Entwürfe durch das Justizministerium zu beteiligen. So können wir in einem sehr frühen Stadium des Gesetzgebungsverfahren sprachlich Einfluss zu nehmen. Die Ressorts, die uns also vor der Rechtsprüfung beteiligen, haben ein großes Interesse daran, mit uns zusammenzuarbeiten. Nicht selten sitzen wir dann mehrere Tage zusammen und diskutieren über jeden einzelnen sprachlichen Veränderungsvorschlag.
 

Wie läuft bei Ihnen im Stab die Sprachprüfung ab?

 
Wir arbeiten im Team nach dem Vier-Augen-Prinzip, um subjektive Eingriffe in den Text – so weit wie möglich – zu vermeiden. Es arbeiten also immer zwei Personen an einem Entwurf. Die beiden müssen ihrer Vorschläge miteinander absprechen und sich bei unterschiedlichen Ansichten einigen.
 

Wo schauen Sie nach, wenn Sie nicht mehr weiterwissen? Wen fragen Sie, wenn Sie Fragen haben? Im Justizministerium oder in den Ministerin?

 
Wir müssen immer den Autor des Textes oder in der Phase der Rechtsprüfung den jeweiligen Mitprüfer fragen, wenn wir nicht verstehen, was eigentlich (inhaltlich) geregelt werden soll. Fehlt dieses Grundverständnis, können wir auch keine sprachlichen Verbesserungen vornehmen. Ohne Kommunikation kommen wir dann nicht weiter.
 

Sie haben gemeinsame Besprechungen und Sitzungen. Ist das nicht alles wahnsinnig langwierig?

 
An einem Paragrafen kann man gern mal drei Stunden sitzen und miteinander diskutieren. Aber in drei Stunden können auch 20 Seiten geschafft sein. Es kommt eben darauf an.
 

Haben Sie Fristen?

 
Ja. Wir arbeiten immer mit Fristen. Die Fristen brauchen wir auch, um die Vielzahl der Sprachaufträge managen zu können.
 
Den Redaktionsstab Rechtssprache beim Bundesministerium der Justiz  gibt es seit Mai 2009. Das Justizministerium hat mit der Gesellschaft für deutsche Sprache einen Sprachberatungsvertrag geschlossen. Dieser Vertrag läuft von Mai 2009 bis Dezember 2012. Neun Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter geben den Ministerien sprachliche Hinweise und machen Vorschläge, damit Gesetze und Verordnungen so klar und verständlich wie möglich formuliert sind. Ab Mai 2011 wird das Team um zwei zusätzliche Mitarbeiterinnen verstärkt.

Stephanie Thieme ist die Leiterin des Redaktionsstabes. Sie studierte Germanistik und Geschichte, war viele Jahre als Lektorin in einem belletristischen Verlag tätig und studierte mit 38 Jahren Rechtwissenschaften.
 
 

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